Seit Corona hat das Thema „lebenswerte Stadt“ noch einmal einen ganz neuen Blickwinkel bekommen. Es geht nicht nur darum, in Städten Wohnraum zu schaffen. Es geht „um das große Ganze“: Flächenknappheit ist mit Klimaneutralität, Kreislaufwirtschaft, dem Schutz von Ökosystemen und dem Wohlfühlen der Bewohner in Einklang zu bringen. Wie kann auf begrenztem Baugrund bezahlbarer Raum erzeugt werden, der den vielfältigen Ansprüchen aller Individuen genügt? Zwei Studien bieten hierfür interessante Ansätze.
I. Studie von RICS Deutschland „Urban Block 4.0“
Die erste Studie stammt von einem privatwirtschaftlichen Herausgeber, der RICS Deutschland. RICS heißt ausgeschrieben „Royal Institution of Chartered Surveyors“ und ist eine einflussreiche Organisation, die 130.000 Immobilienexperten rund um den Globus repräsentiert. Sie steht für die professionelle Berufsausübung in sämtlichen Bereichen der Immobilienwirtschaft und über alle Nutzungsarten. Im Positionspapier „Urban Block 4.0“ greift RICS das Modell der klassischen Blockrandbebauung auf und entwickelt es weiter zu einem Quartierskonzept mit einer hohen baulichen Dichte, sozialer sowie funktionaler Durchmischung und innovativen Technologien. Ihre Ansätze fasst sie in zehn Kernthesen zusammen:
- Das zukünftige Modell der Stadt ist entscheidend für die Lösung vielfältiger Probleme des Megatrends Urbanisierung: Bezahlbarer Wohnraum, Verkehr, Klima und sozialer Zusammenhalt.
- Die Stadt ist so zu konfigurieren, dass sie für alle Menschen einen lebenswerten, nachhaltigen und umweltschonenden Lebensraum formt.
- Eine hohe bauliche Dichte sowie eine funktionale und soziale Durchmischung sind die Schlüssel zum Erfolg im urbanen Raum.
- Verdichtung schafft die Voraussetzung, um ausreichenden und bezahlbaren Wohnraum bereitstellen zu können.
- Digitalisierung und vielfältige Lebensentwürfe verändern die Art und Weise, wie Stadtmenschen wohnen, arbeiten, einkaufen, sich fortbewegen oder ihre Freizeit verbringen, grundlegend.
- Die gründerzeitliche Blockrandbebauung kann heute (wieder) als bewährte Blaupause für erfolgreiche Stadtmodelle dienen.
- Das klassische Konzept muss im von der Digitalisierung geprägten Zeitalter eine Transformation zum „Urban Block 4.0“ durchlaufen.
- Eine radikale Mischnutzung, die auch Handwerk und Light Industrial integriert, innovative Immobilienformen und attraktive öffentliche Räume sind weitere wichtige Elemente des Gesamtkonzepts.
- Smart Solutions optimieren Ressourcenverbräuche, Mobilität und soziale Interaktionen.
- Für die erfolgreiche Realisierung des „Urban Block 4.0 im intelligenten Quartier“ sind umfassende gesetzliche Reformen notwendig.
II. Baukulturbericht 2020/21 der Bundesstiftung Baukultur
Die zweite Untersuchung ist öffentlicher Natur. Es ist der Baukulturbericht 2020/21 der Bundesstiftung Baukultur. Er beschreibt auf 173 Seiten die aktuelle Ausgangslage und die Herausforderungen für eine Stadt- und Ortsentwicklung durch hochwertige Freiräume. Neben relevanten Einflussfaktoren und Hinweisen für eine hohe Gestaltqualität öffentlicher Räume liefert der Bericht aktuelle Erkenntnisse aus Kommunal- und Bevölkerungsumfragen und stellt gute Beispiele ausgewählter Stadt- und Verkehrsräume vor. Die Autoren vertreten drei Kernbotschaften:
- Stadt- und Ortsentwicklung durch hochwertige Freiräume
Attraktive Städte und Orte sind lebendig, sicher, nachhaltig und gesund. Sie zeichnen sich durch eine Vielzahl gut gestalteter öffentlicher Freiräume aus, die Begegnungen ermöglichen und den Austausch fördern. Als Ausgangspunkt städtebaulicher Planungen legen Freiräume grundlegende Qualitäten wie Wegeverbindungen fest. Sie bilden die elementare und dauerhafte Struktur einer Stadt, in der sich ihr Charakter und Rhythmus zeigen. Das zukünftige Modell der Stadt ist entscheidend für die Lösung vielfältiger Probleme des Megatrends Urbanisierung: Bezahlbarer Wohnraum, Verkehr, Klima und sozialer Zusammenhalt. - Neue Mobilität und Infrastrukturen gestalten – Potenziale für öffentliche Räume erkennen und nutzen
Straßen und Verkehrsflächen sind in öffentlicher Hand. Durch ihre Gestaltung können Städte und Gemeinden die Aufenthaltsqualität in öffentlichen Räumen erheblich verbessern. Attraktive und unverwechselbare Verkehrs- und Stadträume machen vielfältige gestalterische, soziale und kommunikative Angebote. Eine gerechte Mobilität verlangt, die Flächenzuteilung gegebenenfalls neu zu bewerten. Zeitgenössisches Bauen und Umbauen knüpft an vorhandene Kulturen und Bauwerke an. und Bauwerke an. Es liefert Antworten auf technische, ökologische und gesellschaftliche Fragen. - Öffentliche Räume brauchen eine baukulturelle Interessenvertretung
Auf öffentlichen Räumen lastet ein hoher Nutzungs- und Erwartungsdruck. Um ihn zu bewältigen, muss an die Stelle geteilter Verantwortlichkeiten und sektoraler Lösungen eine ganzheitlich agierende Organisations-, Planungs- und Trägerstruktur treten. Ein gut aufgestelltes Management kümmert sich um Planung, Bau, Kommunikation, Flächenbelegung und Pflege. Die öffentliche Hand und private Akteure stehen dabei in engem Austausch und entwickeln gemeinsam zukunftsfähige Perspektiven.
Fazit: Städte und Stadtquartiere müssen neu gedacht und geplant werden. Das ist eine riesige Herausforderung für Politik und Gesellschaft, bei der die planenden Berufe eine Vorreiterrolle übernehmen und Impulse setzen können. Ein „anerkannter Vordenker“ wie der Architekt Christoph Mäckler legt in einem Essay für die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Finger in die Wunde: „Der heutige Zeilenbau, dessen geringe Dichte und stadträumliche Zusammenhanglosigkeit das Zusammenleben seiner Bewohner anonymisiert, muss aufgegeben werden.“ Er müsse durch städtische europäische Haustypen wie Hof- und Flügelhäuser ersetzt werden, die nicht nur eine höhere Dichte haben, sondern mit ihren Höfen auch das soziale Miteinander fördern. „Dichte ist kein Wert an sich, sondern muss mit sozialer und funktionaler Vielfalt und städtebaulich gefassten, qualitätsvollen Straßen- und Platzräumen einhergehen.“ Mäckler belegt, dass die Chancen für einen Neuanfang noch nie so gut war wie jetzt. Warum? Weil auch die kommunalen Entscheidungsträger und deren „Zuarbeiter“ (Baubürgermeister, Planungsdezernenten und Planungsamtsleitern) die Zeichen der Zeit erkannt und ein entsprechendes Manifest unterschrieben haben. Denn sie müssen mitspielen, und die städtebaulichen Gesetzesänderungen anstoßen bzw. zulassen. Der Druck dazu sollte auch von den planenden Berufen kommen.